Inhalt der Printausgabe
Die Munterschicht macht mobil
DEUTSCHLANDS MITTE
UND DIE DÄMONEN AUS DER UNTERSCHICHTSHÖLLE
Von Mark-Stefan Tietze
Natürlich wurde die Unterschichtsdebatte von den deutschen Mittelschichten geführt; weder Fabrikbesitzer noch Erntehelfer verdingen sich ja in Journalismus und Sozialtechnologie. Sie war ein Selbstgespräch der Mittelschicht und hatte deshalb neben allerhand terminologischem Gequassel zunächst den altbekannten wohligen Grusel jener Schicht zum Inhalt, die sich beim unschönen Anblick des gesellschaftlichen Bodensatzes darüber verständigte, daß sie gottlob so nicht ist, und sich also wie üblich über diese Abgrenzung definierte und in ihrem Selbstverständnis bestätigte; oder dies jedenfalls wollte.
Daß es nämlich am unteren Ende der Gesellschaft ein wachsendes Milieu der Darbenden, Hoffnungslosen und Verwahrlosten gebe, um das man sich zur Abwechslung einmal kümmern müsse, hatten im Oktober nacheinander der SPD-Vorsitzende Beck und seine Friedrich-Ebert-Stiftung entdeckt und die Publizistik mit dieser Entdeckung in jähe Erregung versetzt, z.B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die sich in ihrem Leitartikel am 17.10. die fremdartigen Lebensumstände innerhalb des Milieus vorzustellen versuchte: »Welche Dramen sich dort abspielen, hat zugleich auf besonders drastische Weise die Entdeckung eines toten Kindes im Kühlschrank seines rauschgiftsüchtigen Vaters vor Augen geführt.« So daß mit Kindstötung, Drogenwahn und kühlschranktypischer sozialer Kälte bereits wichtige Unterscheidungsmerkmale zum Alltag der FAZ-Leserschaft vorlagen.
Daß es in der beschriebenen Unterschicht allerdings auch unter weniger dramatischen Umständen immer noch schlimm genug zugehe, berichtete am selben Tag Brigitte Fehrle im Leitartikel der Frankfurter Rundschau: »Wenn eine junge Frau – wie jüngst in Berlin – eine Lehrstelle als Friseurin abbricht mit der Begründung, sie bekomme mehr Geld, wenn sie Hartz IV beantrage und schwarz putzen gehe, dann hat die Politik vieles falsch gemacht.« Beispielsweise zugelassen, daß Friseurinnen im ersten Lehrjahr 256 Euro monatlich erhalten? Also etwa soviel, wie Frau Fehrle im selben Monat evtl. beim Coiffeur läßt? Nein, sondern: »Unter anderem zugelassen, daß staatliche Alimentation zu einer gesellschaftlich anerkannten Lebensform wird, die jeglichen individuellen Aufstiegswillen verschüttet.« So daß mit mangelndem Ehrgeiz, Schicksals- und Staatsergebenheit weitere, dem FR-Leser von vornherein wesensfremde Unterschichtsmerkmale sichtbar wurden.
Just diesem Bild des Elends hatte Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zwar tags zuvor entgegenwirken wollen, indem er laut Netzeitung klarstellte: »Das sind wahrhaft nicht alles Menschen, die den ganzen Tag in Trainingsanzügen in irgendwelchen Pommesbuden rumsitzen und Gameboy spielen«; doch hatte sein trotziger Einwurf die Verbreitung dieses Schreckensgemäldes nicht verhindern können, wie sie am 19.10. Walter Wüllenweber im Stern vornahm: »In den vergangenen Jahren hat die Unterschicht eigene Lebensformen entwickelt, mit eigenen Verhaltensweisen, eigenen Vorbildern und eigenen Werten« – welche sich wiederum, Studien zufolge, vor allem dadurch auszeichneten: »Arbeit, Leistung, sich für eine Sache anzustrengen, das rangiert im Wertesystem dieser neuen Unterschicht ganz hinten. Ganz vorn steht der Konsum.«
Der ja von der Mittelschicht zutiefst abgelehnt wird. Dort kauft man seine Audis und Volvos nur höchst widerwillig und lediglich, um sicherer zur Arbeit zu kommen und den neuen Stern vom Kiosk zu holen – oder, um es mit ganz anderen Worten zu sagen: An dieser grellen Projektion konnte man sehen, was die Unterschichtsdebatte eigentlich verhandelte, nämlich die neuen Probleme dieser Mittelschicht, die Erosion ihrer blendenden Laune und ihre wachsenden Abgrenzungsschwierigkeiten. Recht klar trat damit zutage, daß sich die eifrig diskutierten Unterschichtsprobleme lediglich als Projektion der Mittelschichtsprobleme darstellten: der Probleme überwiegend satter, aber durchaus verunsicherter Eierköpfe.
Ökonomisch hat diese Schicht, sofern abhängig beschäftigt, damit zu kämpfen, daß im günstigen Fall der Aufstieg schwerer fällt – Kosten steigen, Einkommenszuwächse und Beförderungen bleiben aus – und im ungünstigen Fall der Abstieg droht. Man wird ja immer leichter seinen Arbeitsplatz los, und dank der rot-grünen Arbeitsmarktreformen fällt man nach nur zwölf Monaten Arbeitslosigkeit auf den Lebensstandard eines verlausten Unterschichtlers. Schlimmer sind jedoch die psychischen Folgen dieser Drohung: »Es gibt eine Rutsche in die Armut, genannt Hartz IV, und es gibt eine gewaltige Angst davor, daß man sich auf einmal selbst darauf befinden könnte«, erkannte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung am 16.10. blitzgescheit. »Es gibt, auch in der Mittelschicht, eine Anhäufung von Unzufriedenheit, durchwirkt von Existenzangst.« Und was damit gemeint ist, verriet Heiner Geißler am 17.10. im Interview mit derselben SZ: »Nach einem Jahr Arbeitslosengeld landen heute auch Leute, die 20, 30 Jahre gearbeitet haben, bei Hartz IV und werden damit behandelt wie 30jährige Alkoholiker.« Da kennen die Arbeitsagentur und ihre Verdächtigungsinstanzen nämlich nichts; und plötzlich auch keine Statusunterschiede mehr.
Genau dieser skandalöse Zustand ist es aber auch, der die deutsche Mittelschicht bis ins Mark hinein erschüttert, unabhängig davon, wie betroffen man tatsächlich ist. Denn in Wahrheit ist doch die Mittelschicht eine stets und seit jeher von der Politik umworbene und begünstigte Großgruppe gewesen. Sie stellte schließlich jene aktive, organisierte und jederzeit artikulationsbereite Mehrheit dar, mit der Wahlen gewonnen wurden und die daher gepäppelt werden mußte. Aus diesem Grund wurde z.B. das gesamte Bildungssystem auf die Bedürfnisse der Mittelschicht zugeschnitten: Gymnasien sind finanziell besser ausgestattet als Grund- und Hauptschulen; Kleinkindbetreuung und Kindergärten kosten Geld, das Studium bis vor kurzem nicht. Doch auch wenn es mit Riesterrente und Elterngeld Trostpflaster gab – insgesamt wurde die Mittelschichtsförderung in den vergangenen Jahren zurückgefahren. Die rot-grünen Steuergeschenke gingen ja eher an Spitzenverdiener, überdies wurde die Eigenheimzulage abgeschafft wie das Ehegattensplitting demnächst wahrscheinlich auch. Hinzu kamen die von Politik und Finanzdienstleistern genährten Sorgen um die Alters- und Gesundheitsversorgung, die auch dem Dümmsten klarmachen, daß der Sozialstaat in Abwicklung begriffen ist; und die das Angstsparen der Mittelschicht einerseits erklären wie andererseits so aussichtslos erscheinen lassen: Es muß ja im Falle von Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit ohnehin alles weggefrühstückt werden.
So hat der fortwährende Verlust von Privilegien dem Bewußtsein der Mittelschicht einen gewaltigen Schaden zugefügt und ihr das Gefühl vermittelt, kurz vor dem Abgrund zu stehen. Die Überzeugung aber, daß sein Absturz, anders als der des 30jährigen Alkoholikers, vollkommen ungerecht und ungerechtfertigt wäre, gehört zur seelischen Grundausstattung des angestellten Mittelschichtlers. Er hat sich seine Privilegien redlich verdient und droht bei weiterem Verlust damit, seine Motivation und seinen Glauben ans System zu verlieren, wie Prantl in der SZ gleichfalls warnte: »Die innere Gewißheit, daß es in einer Leistungsgesellschaft jeder nach oben schaffen und sich dann auch oben halten kann, wenn er nur begabt und fleißig ist, ist dahin – auch in einem Teil des Mittelstandes.« Mit Begabung und Fleiß sind hier aber auch die zentralen Begriffe genannt, auf denen das Überlegenheitsgefühl der Mittelschicht ruht. Mit ihnen unterschied man sich stets nicht nur von der Unterschicht, sondern ebenfalls von der degenerierten und dekadenten Oberschicht, die einfach nur gut von ihrem Vermögen lebt.
Derartig gut zu leben versteht jedoch, laut Wüllenwebers Propagandastreich im Stern, heutzutage auch die Unterschicht: »Geld haben die Armen in Deutschland genug. Sie haben Spülmaschinen, Mikrowellenherde, die neuesten Handys, DVD-Spieler, meist mehrere Fernseher«, weshalb man sich um dieses leidige Thema keine Gedanken zu machen brauchte, wie der Tenor der meisten Kommentare lautete. »Mit mehr Sozialknete kann man die Benachteiligung nicht wirksam bekämpfen«, befand also stellvertretend Wüllenweber. »Die Erfahrung zeigt: Das würde nur den Umsatz bei McDonald’s erhöhen.« Zur Förderung von Begabung und Fleiß dagegen habe er etwas gefunden: »Es gibt Methoden, die tatsächlich helfen. Die Lösung heißt Bildung.«
Damit hatte die Mittelschicht ihre wichtigste Waffe ausgepackt. Bildung ist ja nicht nur der Strohhalm, an dem sie sich festklammert, sondern auch die Saat, die sie allerorten ausstreuen möchte. Für den Kriminologen Christian Pfeiffer wäre das Heilmittel darum, laut Focus vom 23.10., ein »attraktives Alternativprogramm zur Medienverwahrlosung«, und der notorische »Historiker« Paul Nolte plädierte dort auch wieder einmal »für eine Werbekampagne gegen den Dauerkonsum von Alkohol, Fritten, Naschzeug und Fernsehen«. Beiden Schlauköpfen war gewiß bewußt, daß sie ihre Waffe auch gegen den Feind in den eigenen Reihen richten müssen. Denn daß es mit der Bildung in Deutschland nicht zum besten steht, weiß jeder, und daß dies wahrlich nicht nur die Unterschicht betrifft, ahnen zumindest die meisten: Dieselben Mittelschichtler, die sich über das schlechte Deutsch und die Bildungslücken der Unterschicht mokieren, nehmen ihre Nachhilfestunden schließlich bei Bastian Sick und Günther Jauch. Man bedenke auch, daß Deutschland mit Franz Müntefering einen Vizekanzler hat, den bereits normales sozialwissenschaftliches Denken so überfordert, daß er es sich in den ARD-Tagesthemen am 16.10. noch einmal ausdrücklich verbat: »Wir dürfen diese Gesellschaft nicht aufteilen in Schichten, in Kategorien.«
Wo man aber so redet, hat sich die alte bildungsbürgerliche Kultur mitsamt ihren feinen Unterschieden augenscheinlich aufgelöst. Und tatsächlich: Hausmusik und gemeinsame Heimatmuseums-besuche dürften in der Mittelschicht inzwischen sehr selten sein, statt dessen wird zusammen mit der Unterschicht zu McDonald’s und ins Fußballstadion gerannt. Und auch die gesammelten Werke der Familie Mann begeistern hier weniger als Popmusicals, Fernreisen und Fernseher mit sehr großem Bildschirm.
Jene Dämonen »Passivität, Permissivität, Bildungsferne und Selbstaufgabe«, die Kathrin Kahlweit der Unterschicht am Tag nach Müntes Offenbarungseid in der SZ attestierte, müssen also – und das war es, was die Debatte ihrem Publikum eigentlich sagen wollte – in der Mittelschicht selbst exorziert werden. Am besten durch ihr Gegenteil, die christlichen Tugenden Betriebsamkeit, Zucht, Bildungsbeflissenheit und Selbstsucht.
So daß schließlich alles wieder auf die Charakterfrage hinauslief, die der engagierte Mittelschichtler durch einen ungeheuren Kraftakt gemeinhin für sich entscheidet – und zwar rigoros, weshalb Nikolaus Piper in der Süddeutschen auch drängte: »Es ist richtig, rigoros gegen arbeitsunwillige Hartz-IV-Empfänger vorzugehen, (…) um Arbeits-suchenden klarzumachen, daß Beitrags- und Steuerzahler ihnen gegenüber ebenfalls legitime Ansprüche haben.« Daß die erwachsene Unterschicht diesen Ansprüchen großteils nicht genügen kann, daß sie für Bildungsbemühungen unempfänglich und für die Leistungsgesellschaft längst verloren ist, war in der Debatte von vornherein klar. Um so lieber stürzte man sich deshalb auf ihre Kinder und forderte, wie Stern-Autor Wüllenweber, von der Politik eine Komplettrenovierung staatlicher Institutionen: »Im Bildungssystem bedeutet das zum Beispiel: Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen zuerst in Neukölln und im Hasenbergl. Erst danach sind die Mittelschichtsviertel dran. Die besten Kindergärtnerinnen und die besten Lehrer nach Billstedt. Das Städtische Theater sollte zuerst mit den anstrengenden Kindern aus Problemschulen zusammenarbeiten, bevor es sich den pflegeleichten Gymnasiasten zuwendet.« Da werden sich die Mittelschichtsviertel schön freuen, bzw. man sieht die vielen Bürgerintiativen und schäumenden Lokalzeitungsleserbriefe schon vor sich. Es war aber vermutlich auch gar nicht so gemeint, sondern eher ein freundlicher Hinweis an die Mittelschicht: Schaut, wie gut wir es im Prinzip noch haben. Oder auch: Dies alles müßten wir tun und finanzieren, damit unsere eigenen Kinder demnächst auch noch mit gleichgutgeförderten Unterschichtsbälgern konkurrieren müssen.
Weshalb am Ende der Debatte von derlei Sozialschmus auch nicht mehr die Rede war, sondern viel eher der Appell an die Politik stand: Verhindert bitte, daß es uns so geht wie denen da unten. Und so ergriff die gleichfalls abstiegsbedrohte CDU unter Führung von Jürgen Rüttgers Partei für die abstiegsbedrohte Mittelschicht, die von den Sozialkassen mehr erwartet als nur ein Almosen, und begann eine Woche danach, sich überraschend einmütig für einen verlängerten Bezug des Arbeitslosengeldes I auszusprechen, damit den langjährigen Beitragszahlern aus der Mittelschicht der Sturz in die Unterschichtshölle erspart bleibe.
Denn wie gesagt: Um die Unterschicht ging es in der Unterschichtsdebatte halt schon gar nicht.