Inhalt der Printausgabe

Blutgrauen in den Massakerbergen

Eine Weihnachtsgeschichte von Gunnar Homann

Es war das erste Weihnachten, das der Marshal, der Bestattungsunternehmer und die Madame miteinander feierten. Natürlich hätte man alles besser machen können, feierlicher, angemessener undsoweiter, aber hinterher ist man immer klüger. Und man muß den Beteiligten zugutehalten, daß es dort, wo alles passierte, einsam war. Es war so einsam, daß den Wölfen die Eingeweide herausfielen, und nur der Mensch mit seiner elastischen Seele wagte den Versuch, es dort länger auszuhalten. Und es war schon verdammt einsam dort. Der Norden an sich ist ja schon einsam, aber hier war es von Norden aus sogar noch einmal viel weiter. Es lag tausend Jahre alter Schnee, im Winter leuchtete die Dunkelheit, und es war immer Winter, und es war immer kalt, und es froren die Berge. Wenn man das nicht gewohnt ist, dieses Einsame, dann kann es schon einmal zu außergewöhnlichen Ereignissen kommen, außergewöhnlicheren noch als solchen, in denen Rasenmäher oder Spülmaschinen eine Rolle spielen.

Jedenfalls: Es war morgens an Heiligabend. Die Madame hatte den Vorhang am Küchenfenster jenes Bordells beiseite geschoben, dessen Besitzerin und einzige Angestellte sie war, schaute in die von der roten Laterne beschienene Dunkelheit und dachte: Zu klären wäre, ob Orte überhaupt einsam sein können. Sie kicherte bei diesem Gedanken.

Auf der anderen Straßenseite protzte das Gebäude des Marshals. Über dem Portal blinkte wie eine Leucht-reklame das Schild »Marshal«. Beziehungsweise: Es war eine Leuchtreklame. Nur daß anständige Marshals keine Leuchtreklame für sich machten. Weil aber die Madame der Meinung war, daß Marshals anständig sein sollten, hatte sie »wie eine Leuchtreklame« gedacht und nicht einfach Leuchtreklame, obwohl sie genau wußte, daß der Marshal Anstand nicht einmal vom Hörensagen kannte. Die Madame seufzte. Sie haßte den Marshal. Er war ein abscheulicher Mensch, der ihr Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung gab, obwohl sie kein Auto besaß. Niemand in dem Ort mit den drei Einwohnern besaß ein Auto, das Benzin wäre sofort eingefroren. -Alles, worauf der Marshal mit seinem Verhalten spekulierte, -waren Gegengeschäfte. Die Madame sagte dann jedesmal »Ach, Marshalchen« und verlangte den normalen Preis. Der Marshal kam einmal in der Woche zu ihr, er besaß eine Kundenkarte. Aber am Morgen des -Heiligabends wollte die Madame daran gar nicht -denken. Sie dachte lieber an den Bestattungsunternehmer. Sie -wußte nicht genau, ob sie ihn liebte, aber er hatte Grübchen, und wenn er ein kleines bißchen mehr zu sich nehmen würde, könnte ein stattliches Mannsbild aus ihm -werden, in das man sich -ordentlich hineinkrallen konnte. Die Madame stellte sich das sehr schön vor und wollte dem -Bestattungsunternehmer etwas zu Weihnachten schenken, wußte aber noch nicht, was.

Der Bestattungsunternehmer hauste in einem Verschlag am Ortsrand. Ihm ging es von allen im Ort am schlechtesten. Er kochte sich Suppen aus Knochen, aber seine -Vorräte waren bis auf einen einzigen Knochen aufgebraucht, und er fragte sich so langsam,  ob ein Bestattungsunternehmen in einem Ort mit drei Einwohnern eine gute Zukunft hatte, zumal sich seine beiden einzigen möglichen Kunden nicht leiden konnten und niemals bereit gewesen wären, die Beerdigung des anderen zu bezahlen. Vielleicht mußte er mal eine Fortbildung besuchen? Außerdem drückte ihn die Gewerbesteuer, die der Marshal verlangte, obwohl der Bestattungsunternehmer das ganze Jahr über keine einzige Beerdigung gehabt hatte, nur eine private, ein verirrter Singvogel. Der Bestattungsunternehmer liebte die Madame. Vor einem Vierteljahr hatte er sie an der Hauptverkehrsstraße getroffen und sich mit ihr über das Wetter unterhalten, heute sehr kalt, o ja, und sehr dunkel, o ja. Seitdem war er ihr still verfallen, und das konnte man der Madame auch sein mit ihrem Haar und ihrer adligen Seele und ihrem dünnen Raschelkleid und allem, was sich darunter abzeichnete. Und so hungrig er war: Er begann, der Madame aus seinem letzten Knochen eine Flöte zu schnitzen, auf der er ihr vorspielen wollte. Denn er wußte, sie liebte Musik.

Während es dem Marshal gutging. Ja, einen Marshal konnte man immer gebrauchen. Deswegen ging es dem Marshal gut, obwohl ihn niemand gewählt hatte. Er hatte sich einfach selbst dazu erklärt. »Scheißegal«, hatte er gesagt, »die eine ist ein Weib, der andere eine Pfeife, ich dagegen bin weder Weib noch Pfeife, also bin ich jetzt hier der Marshal« – ohne die anderen beiden auch nur zu fragen, ob sie einverstanden wären, daß er jetzt den Marshal machte. So also war es mit dem Marshal.

Der Marshal wollte niemandem etwas schenken, teils, weil er ein Arschloch war, teils auch einfach so nicht. Er wollte heute abend eine Weste tragen, das Puzzle mit den 25 Teilen machen, und wenn er danach noch wach genug dazu war, in den Kamin schauen. Vorher wollte er aber noch ins Puff.

Am Nachmittag legte der Marshal das Bruchband an, zog seine langen Unterhosen über, knöpfte die Knöpfe an seinem Unterhemd zu, fuhr in seine schwarzen Marshalsocken, sein weißes Marshalhemd und ein Paar Stiefel. Er kämmte sich einen Seitenscheitel. Er rasierte sich mit warmem Wasser. Dann trat er vor die Türe, schaute erst nach links, dann nach rechts, dann geradeaus, und dann ging er genau in der Mitte des Zebrastreifens über die Hauptverkehrsstraße. Er klopfte an die Tür des Puffetablissements. Die Madame öffnete. »Heute ist Weihnachten, Marshalchen, da ist Ruhetag.«

»Dann verhafte ich Sie hiermit aus Langeweile. Außer-dem gehört hier mal der Permafrost gekehrt«, sagte der Marshal.

»Da haben Sie recht, Marshal. Ich komme gleich mit. Ich will nur noch eben meine Sachen holen. Diesen kleinen Wunsch können Sie einer Dame nicht abschlagen, nicht wahr, Marshal?«

Der Marshal nickte.

Als die Madame wieder zur Türe kam, trug sie einen Seidenschal um den Hals und ihre Damenflinte in der Hand. Ihre Mutter hatte sie ihr damals zum Abschied gegeben, so wie es ihre Mutter bei ihr getan hatte und-soweiter. Es handelte sich um eine Dynastie-Flinte. »Wenn man eine Flinte hat, braucht man sie nicht«, hatte ihre Mutter gesagt. Jetzt brauchte die Madame die Flinte aber doch. Klar: Der Marshal war ihr Geschenk für den Bestattungsunternehmer, mit Sarg und allem. Bamm! machte die Wumme, als sie mit trommelfellzerreißendem Knall explodierte. Der Schuß ging daneben, die Madame hielt sich die Ohren zu; Blut tropfte von ihren Händen. Der Marshal verhaftete die Madame.

Eine halbe Stunde später klopfte der Bestattungsunternehmer mit einem Paket in der Hand beim Marshal. Er fragte ihn, ob er wisse, wo die Madame sei. Der Marshal unterrichtete ihn über die Vorgänge. Weil Weihnachten war, durfte der Bestattungsunternehmer die Madame besuchen.

»Schauen Sie, ich habe Ihnen eine Knochenflöte geschnitzt, auf der werde ich Ihnen vorspielen«, sagte er. Aber die Madame konnte ihn nicht hören. Sie war taub von der explodierten Flinte. Es war ein ziemliches Scheißweihnachten geworden. Obwohl: Der Marshal war ganz zufrieden.

Gunnar Hohmann

ausgewähltes Heft

Aktuelle Cartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Dear Weltgeist,

das hast Du hübsch und humorvoll eingerichtet, wie Du an der Uni Jena Deiner dortigen Erfindung gedenkst! Und auch des Verhältnisses von Herr und Knecht, über das Hegel ebenfalls ungefähr zur Zeit Deiner Entstehung sinnierte. Denn was machst Du um die 200 Jahre später, lieber Weltgeist? Richtest an Deiner Alma Mater ein Master-Service-Zentrum ein. Coole Socke!

Meisterhafte Grüße von Deiner Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Also wirklich, »Spiegel«!

Bei kleinen Rechtschreibfehlern drücken wir ja ein Auge zu, aber wenn Du schreibst: »Der selbst ernannte Anarchokapitalist Javier Milei übt eine seltsame Faszination auf deutsche Liberale aus. Dabei macht der Rechtspopulist keinen Hehl daraus, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, obwohl es korrekt heißen müsste: »Weil der Rechtspopulist keinen Hehl daraus macht, dass er sich mit der Demokratie nur arrangiert«, müssen wir es doch anmerken.

Fasziniert von so viel Naivität gegenüber deutschen Liberalen zeigt sich

Deine Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Nichts aufm Kerbholz

Dass »jemanden Lügen strafen« eine doch sehr antiquierte Redewendung ist, wurde mir spätestens bewusst, als mir die Suchmaschine mitteilte, dass »lügen grundsätzlich nicht strafbar« sei.

Ronnie Zumbühl

 Neulich

erwartete ich in der Zeit unter dem Titel »Glückwunsch, Braunlage!« eigentlich eine Ode auf den beschaulichen Luftkurort im Oberharz. Die kam aber nicht. Kein Wunder, wenn die Überschrift des Artikels eigentlich »Glückwunsch, Braunalge!« lautet!

Axel Schwacke

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Einmal und nie wieder

Kugelfisch wurde falsch zubereitet. Das war definitiv meine letzte Bestellung.

Fabian Lichter

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt
08.04.2024 Oldenburg, Theater Laboratorium Bernd Eilert mit Klaus Modick