27.02.2008
| 15:46 Uhr
Götz Aly, Historiker
„2008, Nummer 3, das erinnert an andere
berühmte Zahlenballungen, wie etwa 08/15, 9/11, 2008 Nummer 2,
Fahrenheit 451. Nun eben 2008, Nummer 3. Dieser Titel steht
für die Austauschbarkeit, die Reduzierung des Menschen auf
eine Nummer und einen (allerdings moderaten!) Preis, auf einen Barcode,
der daneben steht. Ich könnte mir vorstellen, daß
das etwas mit Kapitalismus zu tun hat, aber die Jungs vom Labor sitzen
noch dran.“
Die
ersten öffentlichen Reaktionen zeigen allerdings, dass
Littells Buch in
Deutschland noch mehr als in Frankreich mit einem Komplex von
Vorurteilen und mehr oder minder emotional getränkten
Voreinstellungen
zusammenprallt. Die Beiträger zu diesem Forum haben sich um
Sachlichkeit bemüht, wenngleich gelegentlich mit sichtlicher
Anstrengung. Schließlich sind auch sie ja Leser mit
Gefühlen und
bestimmten politischen und moralischen Vorstellungen. Vielleicht
hätte
das hier und da deutlicher zum Ausdruck kommen sollen.
Wenn nicht alles täuscht, hat Littell die Kollision mit
politisch und
moralisch korrekten Diskursen gewollt. Damit ist er zweifellos ein
Risiko eingegangen. Es gab ja durchaus Stimmen, die ihn als perversen
Profiteur des Holocaust abstempeln wollten. Das Blatt hat sich nach den
Stellungnahmen von Claude Lanzmann und Jorge Semprún
gewendet, aber
davon muß sich der Leser nicht beeindrucken lassen. Vielmehr
sollte er
sich der Freiheit versichern, die er zwischen Annehmen und Ablehnen bis
hin zur vorzeitigen Beendigung der Lektüre auch und gerade
diesem Buch
gegenüber hat. Es wäre der Machart des Textes
unangemessen, würde er
als Pflichtlektüre betrachtet. Dennoch sei empfohlen, sich
nicht zu
früh abschrecken oder abstoßen zu lassen. Erst wenn
deutlich wird, wie
Littell seine Hauptfigur Max Aue konstruiert hat und welche
erzählerischen Mittel er verwendet, um den Leser trotz des
Konstruktcharakters in dessen Perspektive zu versetzen, kann sich eine
Gegenwärtigkeit der Erfahrung einstellen.
Gerade bei den Motiven des Täters mag die Konstruktion als
allzu
überladen und vor allem hinsichtlich der Sexualisierung allzu
kolportagehaft erscheinen. Dagegen kann nur noch einmal betont werden,
dass es sich bei dem Buch trotz der Bindung an historische Fakten
vorrangig um ein Werk der Fiktion handelt, das allerdings ein
Möglichkeitsspektrum der Sicht auf Täterschaft
eröffnet. Auch in diesem
hat der Leser die Freiheit anzunehmen und zu verwerfen, jedoch sollte
er erwägen, ob es nicht zur Qualität des Buches
gehört, dass es die
gängigen Klischees vom nationalsozialistischen Täter
gründlich in Frage
stellt, obwohl dieselben im einzelnen aufgegriffen werden. Das sollte
prozessual betrachtet werden, nicht additiv in dem Sinne, daß
eine
Gleichzeitigkeit aller Motive in einem realen Menschen vorstellbar
werden soll.
Ob und wie sich in einer solchen prozessualen Lektüre eine
Perspektive
auf die Gegenwart und eine Bereicherung oder Differenzierung der
persönlichen Sicht herstellt, kann weder der Roman noch der
Wissenschaftler oder Kritiker dem Leser vorschreiben. Hier wird sich
ein Spektrum von Reaktionen ergeben, das der Skala der im Text
entfalteten Möglichkeiten gegenübersteht. Auf die
weitere Diskussion in
diesem Forum darf man daher gespannt sein. Dass Littells Buch nicht
folgenlos für den Diskurs über totalitäre
Gewalt bleiben wird, zeichnet
sich bereits jetzt ab.
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