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Lügenwalder: Schnitt ins eigene Vleisch

von Martin Weidauer

Knackende Knochen, der Gestank von Kot und Innereien, ausgebeutete Arbeitskräfte aus Niedriglohnländern (z.B. Berlin): Das Kliemannsland ist immer eine Reise wert. Mir fehlte dafür zuletzt die Zeit, da ich monatelang undercover bei der Rügenwalder Mühle recherchieren musste.

[Als im April 2019 die Idee zum Artikel entsteht, habe ich keinerlei Ahnung, wie man das Projekt finanzieren könnte. Nach ersten Gesprächen mit TITANIC wird klar: Auch da weiß das niemand. Ebendeshalb enthält dieser Text bezahlte Werbung.]

Ich immatrikuliere mich zum Wintersemester 2020/21 im Bachelorstudiengang "Artgerechtes Schlachten" an der Fernuni Hagen und bewerbe mich hernach für ein Praktikum bei der Rügenwalder Mühle. Das Bewerbungsverfahren läuft reibungslos, da ich Stipendiat der "Tönnies-Stiftung für Fleisch, Schalke und Afrika" bin. Im Januar 2021 ist es dann endlich so weit. Mit einem Rucksack voller leckerer und gesunder Demeter-Produkte mache ich mich auf den Weg von Frankfurt nach Bad Zwischenahn. Die Arbeiter*innen in der Firmenzentrale wirken zufrieden, die Chef*innen geben sich leutselig. Irgendetwas stimmt hier nicht! Nachdem ich ein paar Tage Dienst nach Vorschrift gemacht habe, begebe ich mich das erste Mal selbständig auf Erkundungstour. Hierfür nutze ich einen unaufmerksamen Moment unseres Schichtleiters Heinz S., der gerade einigen Influencer*innen erklärt, was Erbsen sind.

In einem Büro fällt mir die Bauplanung der tatsächlichen Rügenwalder Mühle, die es bis 2012 (!) gar nicht gab, in die Hände. Dieses "Geht nicht, gibt's nicht"-Mindset zieht sich durch das gesamte Unternehmen. Schockiert stelle ich während der Lektüre des Schriftstücks "Dolly vegan" fest, dass ich vorgestern nicht mit Jörg Pilawa, sondern einer täuschend echten Nachbildung aus Sojaprotein gesprochen habe! Im Spezialkühlhaus fallen mir mannshohe Kühlkapseln auf. Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich. Ich finde rein pflanzliche Klone von Johannes B. Kerner (Gutfried), Uli Hoeneß (Nürnberger), Dieter Bohlen und Atze Schröder (beide Bruzzzler). Besonders perfide: Conchita Wurst sehe ich ebenso in Gefrierstarre. Was will die Rügenwalder Mühle damit erreichen? Hatte der echte Pilawa damals überhaupt Zeit, Werbung für die Firma zu machen? Zwischen all den Quizduellen, Talkshows und seiner Privatinsel? Ich fühle mich als Mensch getäuscht, obschon ich freilich in erster Linie Konsument bin.

Ergebnislos zermartere ich mir den Schädel. Auf dem Klo versuche ich mithilfe einer geführten Meditation, meine Mitte zu finden. Als ich die Frage, wo meine innere Hängematte hängt, nicht beantworten kann, ziehe ich die Reißleine. Ich gebe vor, an einer akuten Tofuallergie zu leiden, hole mir bei der Landärztin einen Krankenschein und retreate mich auf das Hausboot von Olli Schulz und dem anderen Typen. Die wunderbare Joyce Ilg schifft gerade ein. Den Aufenthalt sponsere eine Wurstmarke, deren Namen sie nicht nennen dürfe. Ich frage höflich, ob sie durch die ganzen Werbedeals wenigstens ordentlich abkassiere. Sie schaut verständnisvoll und hebt an: "Ja, ich bin reich." Eine Kunstpause später sekundiert sie: "An ungesättigten Fettsäuren!" Ich unterdrücke ein Lächeln. Unvermittelt beginnt sie, das kürzlich auch von Philipp Amthor intonierte Pommernlied zu singen: "Pommersche aus dem Buchenrauch, frisch auf den Tisch, so ist's der Brauch!" Sie ist derart ekstatisch, dass sie nicht bemerkt, wie ich mich auf meine Gemächer zurückziehe.

Der Bordfunk weckt mich 45 Minuten später. Es ist Joyce: "Weißt Du eigentlich, dass es Verpackungen gibt, die zu 84 Prozent wiederverwertbar sind?" Mir schlottern die Knie - irgendwo habe ich das schon mal gelesen. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. In einer Nacht- und Nebelaktion mache ich mich aus dem Staub, obwohl es spät geworden und die Wetteraussichten trüb sind. Ich sehne mich nach einem Lotsen für die Stromschnellen meines Reporterdaseins. Ruhelos irre ich durch Harburg, bis ich einen Entschluss fasse: Ich werde Rügenwalder das Handwerk legen, das Unternehmen auf die Mühlhalde schicken! Reines Glück, dass der hafeneigene Demeter-Flagshipstore noch offen hat, denn die Öffnungszeiten orientieren sich an den Mondphasen. So kann ich mir für meine letzten 20 Euro Bargeld eine preisreduzierte Gurke kaufen. Per Leihwagen fahre ich nach Bad Zwischenahn, um der Mühle den Ahn abzudrehen. Eine Reise auf der humoristischen Überholspur.

Im Kühlhaus angekommen taue ich die Veggieklone auf. Ich umarme alle, um ihnen ein Gefühl von Wärme zu vermitteln. Mich befallen erste Zweifel an der Aktion, als Soja-Pilawa "grob oder fein - die mit der Mühle muss es sein" leise und ohne Unterbrechung vor sich hinmurmelt. Leerer Blick, blasse Haut, irgendwie ungesund wirkend - ich schaue etwas zu lang in den kleinen Spiegel. Erbsen-Kerner wiederholt indes "Gutfried ist gut für mich", Rapsöl-Hoeneß "Veganer sind aggressiv", Vollei- Bohlen und Protein-Atze "Mann, is' das 'ne Wurst!" Die kurze Hoffnung, dass zumindest Weizen-Conchita rundläuft, zerschlägt sich, als ich näherkomme. Sie stolpert über ihre eigenen Füße und lallt "Songcontest, Songcontest, Songcontest", holt dabei kaum Luft. Ich kann nicht einschätzen, ob sich diese illustren Gestalten ihrer selbst bewusst sind. Es ist ein Rügenwalder Mühlenfest der anderen Art, soviel ist unstrittig.

Um mich zu schützen, breche ich meine Untersuchungen an dieser Stelle ab. Per Diskette stehle ich das Mettwurst-NFT. Beseelt vom guten Gefühl der Selbstachtsamkeit freue ich mich, den Mühlen des journalistischen Betriebs entkommen zu sein. Fürderhin werde ich mich wieder mehr auf mein Studium "in" Hagen konzentrieren.

[Werbepartner*innen: Tönnies Holding, Demeter und Joyce Ilg]

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Du, »Brigitte«,

füllst Deine Website mit vielen Artikeln zu psychologischen Themen, wie z. B. diesem hier: »So erkennst Du das ›Perfect-Moment -Syndrom‹«. Kaum sind die ersten Zeilen überflogen, ploppen auch schon die nächsten Artikel auf und belagern unsere Aufmerksamkeit mit dem »Fight-or-Flight-Syndrom«, dem »Empty-Nest-Syndrom«, dem »Ritter-Syndrom« und dem »Dead- Vagina-Syndrom«. Nun sind wir keine Mediziner/innen, aber könnte es sein, Brigitte, dass Du am Syndrom-Syndrom leidest und es noch gar nicht bemerkt hast? Die Symptome sprechen jedenfalls eindeutig dafür!

Meinen die Hobby-Diagnostiker/innen der Titanic

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Apropos: ¡Hola bzw. holla, spanischer Priester!

Du hast Dir die Worte aus dem Matthäusevangelium »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« zu sehr zu Herzen genommen und in Deiner Gemeinde in der Kleinstadt Don Benito einen regen Handel mit Potenzmitteln betrieben. Für diesen nach weltlichem Ermessen offensichtlichen Sündenfall musst Du Dich nun vor einem irdischen Gericht verantworten.

Uns ist zwar nicht bekannt, ob Du Dich gegenüber Polizei und Justiz bereits bußfertig gegeben hast oder weiterhin auf das Beichtgeheimnis berufst. Angesichts der laut Zeugenaussagen freudigen Erregung Deiner überalterten Gemeindemitglieder beim Geläut der Glocken sowie ihres Durchhaltevermögens bei den nicht enden wollenden Eucharistiefeiern inklusive Rumgeorgel, Stoßgebeten und orgiastischer Gottesanrufungen sprechen alle Indizien aber ohnehin gegen Dich!

Bleibt auch ganz ohne künstliche Stimulanzien weiter standfest im Nichtglauben: Titanic

 Vielleicht, Ministerpräsident Markus Söder,

sollten Sie noch einmal gründlich über Ihren Plan nachdenken, eine Magnetschwebebahn in Nürnberg zu bauen.

Sie und wir wissen, dass niemand dieses vermeintliche High-Tech-Wunder zwischen Messe und Krankenhaus braucht. Außer eben Ihre Spezln bei der Baufirma, die das Ding entwickelt und Ihnen schmackhaft gemacht haben, auf dass wieder einmal Millionen an Steuergeld in den privaten Taschen der CSU-Kamarilla verschwinden.

Ihr Argument für das Projekt lautet: »Was in China läuft, kann bei uns nicht verkehrt sein, was die Infrastruktur betrifft.« Aber, Söder, sind Sie sicher, dass Sie wollen, dass es in Deutschland wie in China läuft? Sie wissen schon, dass es dort mal passieren kann, dass Politiker/innen, denen Korruption vorgeworfen wird, plötzlich aus der Öffentlichkeit verschwinden?

Gibt zu bedenken: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Teigiger Selfcaretipp

Wenn du etwas wirklich liebst, lass es gehen. Zum Beispiel dich selbst.

Sebastian Maschuw

 No pain, no gain

Wem platte Motivationssprüche helfen, der soll mit ihnen glücklich werden. »There ain’t no lift to the top« in meinem Fitnessstudio zu lesen, das sich im ersten Stock befindet und trotzdem nur per Fahrstuhl zu erreichen ist, ist aber wirklich zu viel.

Karl Franz

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt
27.04.2024 Schwerin, Zenit Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
28.04.2024 Lübeck, Kolosseum Martin Sonneborn mit Sibylle Berg
29.04.2024 Berlin, Berliner Ensemble Martin Sonneborn mit Sibylle Berg