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Abt. Millionäre zur Lage
Daniel Kehlmann: "Wir müssen jetzt maßvoll durchdrehen"
Deutschlands einziger Weltschriftsteller macht derzeit mit Interviews in "Welt" und "NZZ" von sich reden: Die Corona-Maßnahmen hätten fast zu einer Diktatur geführt, mit dem Verzicht auf Restaurantbesuche breche die abendländische Zivilisation zusammen. Im Gastbeitrag für “TITANIC Online” erklärt Kehlmann, warum er noch immer ernstgenommen werden möchte.
Gestern hatte ich Francis Fukuyama im Zoom-Call. Der bekannte Futurologe, ein wirklich bedeutender Mann, trug in unserem Gespräch eine Maske. Angeblich, weil er gleich noch zu Penny müsse. Da fragte ich mich für einen Moment schon, ob wir alle eigentlich noch unsere Vernunft (Kant) benutzen, oder nur ich. Ich, Daniel Kehlmann.
Ich gebe zu: Im März bin ich ein bisschen durchgedreht. Die Aussicht, für ein paar Wochen mein Leben zugunsten des Allgemeinwohls einschränken zu müssen, hat mich sehr betroffen gemacht. Einschränkungen, das kenne ich nur aus totalitären Systemen. Und mit dem “Allgemeinwohl” wurde noch jedes Verbrechen gerechtfertigt: die Stasi, die Buchpreisbindung, die Straßenverkehrsordnung. Diese Position nehme ich mir heraus: Wenn ich als Schriftsteller nicht mehr für ein Wochenende spontan nach New York zum Shoppen kann, sind wir der DDR gefährlich nahe.
Ich habe mich wochenlang in einem nur wenige tausend Euro teuren Ferienhaus in Montauk einquartiert, um die Krise abzuwarten. Mit Vorräten, Waffen und einer Playstation. Draußen war es kalt. Kalt, wie in einem Gulag! Immer, wenn ich das Fenster öffnete, spürte ich ihn, den Eishauch des Totalitarismus, der mich auch immer anfährt, wenn ein Juso das Wort "Vermögenssteuer" in den Mund nimmt. Ich korrespondierte mit einer Freundin, die 60 000 Dollar Miete für ihre Boutique in Soho zahlen muss und jetzt nicht mehr ein noch aus weiß vor lauterlauter. Sie war sich sicher: Die Machtergreifung der Kommunisten steht unmittelbar bevor.
Heute lache ich im Interview mit der "NZZ" über Boris Groys, der seine Wohnung viele Wochen nicht verlassen hat. Da war im Vergleich mein Meltdown im März doch vergleichsweise besonnen. Nein, wir müssen uns jetzt an Schweden orientieren! Schweden, wo die Regierung sehr früh erklärt hat, dass übergeschnappte Großschriftsteller dort weiter Narrenfreiheit haben. Ansonsten möchte ich mich in den nächsten Wochen vor allem als maßvoll abwägender Feingeist inszenieren, damit allmählich vergessen wird, dass ich darüber nachgedacht habe, ob man für offene Restaurants nicht ein paar Pflegerinnen sterben lassen kann.
Woher ich meine Kompetenz habe, über virologische Fragen zu sprechen? Ich habe einen Roman über Seuchen im Mittelalter geschrieben. Beim "Schwarzen Tod" ging es nämlich auch viel um Panik, Aberglauben und Rituale. Und mittendrin: skrupellose Opportunisten, die versuchen, mit der Verwirrung der Leute Geld zu verdienen. Meine Gedanken aus dem Montauker Exil habe ich übrigens bereits jetzt zu einem epochemachenden neuen Stück vereint. 89 Euro, kommt neutral verpackt.
Bleiben Sie gesund! Ich muss es ja auch.
Herzlich
Daniel Kehlmann
Lektorat: Leo Fischer