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Bizarrodeutschland an der Urne

Österreich hat gewählt. Doch wer ist dieses Österreich überhaupt? TITANIC hat vor der Wahl mit Wählerinnen und Wählern gesprochen. Wer sind sie? Was treibt sie an? Und wo gibt es die besten Käsekrainer?

Egon Losacher sitzt an diesem Freitagmorgen an seinem Küchentisch und denkt nach. Seine spärlich eingerichtete Gründerzeitwohnung, die er sich mit seinem ebenfalls ledigen Bruder teilt, liegt im 2. Bezirk. Seit hier 2011 Straßenprostitution verboten wurde, befindet sich das einstige Vergnügungsviertel im Abstieg. Immer mehr Akademikerfamilien und teils unverheiratete Paare strömen herein und lassen ohnehin schwierige Grätzl wie das Stuwerviertel zu einem unkontrollierbaren Meltingpot wachsen. Beflissentlich legt Egon Losacher seine gestopfte Filterzigarette weg, um Milch in sein Dinkelmüsli zu gießen. "Ich nehme das jetzt am Morgen immer zu mir, denn in der Beilage der Presse stand, dass Bio gut für mich ist." Sein Blick richtet sich zur Wand. "Soll ich Grün wählen?" platzt es in einer Mischung aus Aufbruch und Verzweiflung aus ihm heraus. Egon Losacher ist sich wie viele Menschen dieser Tage unsicher.

Losacher ist einer, der seit seiner Geburt im 2. Wiener Bezirk wohnt und einer, der nie etwas anderes als ÖVP gewählt hat. Einer, der gern ins Beisl geht und Fan von Austria Wien ist. "Obwohl der von Juden gegründet wurde", sagt er. Losacher scheint der Durchschnitt der unteren Mittelschicht zu sein. Es sei nicht einmal die Ibizia-Affäre gewesen, er kann Kurz schlicht und einfach nicht leiden. "Ich gönne es dem Knabenkanzler nicht, dass er dafür verantwortlich ist, wenn es mir im Alter schlecht geht. Dann gebe ich das doch lieber den Ökos in die Hand."

Marius Geier und sein Genosse Erhardt Steininger wohnen im 6. Bezirk der österreichischen Hauptstadt. Ein hipper Bezirk voller touristischer Kaffeehäuser, Second-Hand-Läden und kleiner Restaurants, die nahezu alle Variationen der asiatischen Küche abdecken. Die ehemaligen Würstelstände sind zu kleinen Hotdog-Schnellrestaurants verkommen. Es gibt sogar Sitzgelegenheiten. Auf der Karte werden Gerichte angeboten, die Soja oder Lupine enthalten. "Das ist hier jetzt eben so", seufzt Geier. Man müsse damit klarkommen, dass jede linke Idee am Ende auch der kapitalistischen Verwertung unterworfen wird. So werde auch der Traum einer nachhaltigen Ernährung nun von rücksichtslosen Öko-Kapitalisten vereinnahmt. Beide Männer sind Funktionäre der Kommunistischen Partei Österreichs.

Das letzte KPÖ-Bezirkstreffen haben sie groß angekündigt und sogar in Anrainerbezirken beworben. 200 Leute sollten kommen. "Am Ende waren es drei", gesteht Geier. "Und eine Pizza!" ergänzt Steininger. Auf die Frage, ob sie die KPÖ oder linke Strömungen hier im Land in der Krise sehen, antworten beide im Gleichklang, dass man nun offen daran arbeite sich politisch und habituell der urbanen Bürgerlichkeit anzunähern, um diese zu infiltrieren. Diese Möglichkeit habe man bisher verpasst, man baue aber in der nächsten Legislatur auf dieses Konzept. Von einem roten SUV ist die Rede. 

Angespannte Stimmung vor der Wahl (Symboldbild)

Dr. Erwin Gruber wählt NEOS, bezeichnet sich selbst als liberalen Überzeugungstäter und Urdemokraten. Der ältere Herr hinterlässt nicht den Eindruck eines Menschen, dem das Leben besonders übel mitgespielt hat, der je darum kämpfen musste, irgendwo dabei zu sein. Mercedes-Benz-Schlüssel, Sakko mit Einstecktuch, beige Leinenhose. Immer wieder spricht er von Teilnahme und Demokratie, wie wichtig doch Wahlen und Teilhabe seien.

"Klar, es geht freilich auch nicht, dass alle überall mitmachen dürfen", sagt Gruber, während er seinen Blick besorgt über die Dachterrassen des schmucken 1. Wiener Bezirks wirft. "Diesen Wohlstand haben sich hier viele hart erarbeiten lassen müssen. Teilhabe bedeutet, dass theoretisch jeder alles haben kann. Theoretisch!" Und so müsse das auch bleiben. Auf die Frage, ob mit der Wahl der NEOS und deren Einzug in den Nationalrat alles besser werden kann, zuckt er zusammen: "Sind wir doch ehrlich: Gab es je eine bessere Regierung in diesem Land? Österreich hat nie so gut wie unter dieser technokratischen Expertenregierung funktioniert. Will man wirklich wieder dahin zurück, dass die Leute hier Opfer ihrer eigenen Entscheidungen werden?" 

Barbara Maletti ist die einzige SPÖ-Wählerin in einem kleinen Tiroler Ort, den sie hier nicht näher benannt haben will. Frau Maletti ist der Liebe wegen von Innsbruck – auch dort hat die SPÖ einen denkbar schlechten Stand – in das kleine Bergdorf gezogen. Was ihr hier entgegenschlägt, ist Hass. Täglich würden ihr offene Anfeindungen ob der Profillosigkeit ihrer Partei widerfahren. "Dabei hat die SPÖ beim diesjährigen Kinderfest eine durchwegs funktionierende Hüpfburg aufgestellt", moniert Maletti, während sie nervös auf einem SPÖ-Kugelschreiber herumdrückt. Und es gäbe noch sehr viel mehr zu sagen, nur fiele ihr gerade nichts ein.

Zurück in Wien treffen wir Egon Losacher vor dem Wahllokal wieder. Auf die Frage, was er gewählt habe, winkt er mürrisch ab. Wie viele Wiener wird er sich morgen hinter die "Kronen Zeitung" zurückziehen und laut schimpfend sein Krügel trinken. 

Jessica Ramczik

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

 Mmmmh, Thomas de Maizière,

Mmmmh, Thomas de Maizière,

über den Beschluss der CDU vom Dezember 2018, nicht mit der Linkspartei oder der AfD zusammenzuarbeiten, an dem Sie selbst mitgewirkt hatten, sagten Sie bei Caren Miosga: »Mit einem Abgrenzungsbeschluss gegen zwei Parteien ist keine Gleichsetzung verbunden! Wenn ich Eisbein nicht mag und Kohlroulade nicht mag, dann sind doch nicht Eisbein und Kohlroulade dasselbe!«

Danke für diese Veranschaulichung, de Maizière, ohne die wir die vorausgegangene Aussage sicher nicht verstanden hätten! Aber wenn Sie schon Parteien mit Essen vergleichen, welches der beiden deutschen Traditionsgerichte ist dann die AfD und welches die Linke? Sollte Letztere nicht eher – zumindest in den urbanen Zentren – ein Sellerieschnitzel oder eine »Beyond Kohlroulade«-Kohlroulade sein? Und wenn das die Alternative zu einem deftigen Eisbein ist – was speist man bei Ihnen in der vermeintlichen Mitte dann wohl lieber?

Guten Appo!

Wünscht Titanic

 Nicht zu fassen, »Spiegel TV«!

Als uns der Youtube-Algorithmus Dein Enthüllungsvideo »Rechtsextreme in der Wikingerszene« vorschlug, wären wir fast rückwärts vom Bärenfell gefallen: In der Wikingerszene gibt es wirklich Rechte? Diese mit Runen tätowierten Outdoorenthusiast/i nnen, die sich am Wochenende einfach mal unter sich auf ihren Mittelaltermärkten treffen, um einer im Nationalsozialismus erdichteten Geschichtsfantasie zu frönen, und die ihre Hakenkreuzketten und -tattoos gar nicht nazimäßig meinen, sondern halt irgendwie so, wie die Nazis gesagt haben, dass Hakenkreuze vor dem Nationalsozialismus benutzt wurden, die sollen wirklich anschlussfähig für Rechte sein? Als Nächstes erzählst Du uns noch, dass Spielplätze von Kindern unterwandert werden, dass auf Wacken ein paar Metalfans gesichtet wurden oder dass in Flugzeugcockpits häufig Pilot/innen anzutreffen sind!

Nur wenn Du versuchst, uns einzureden, dass die Spiegel-Büros von Redakteur/innen unterwandert sind, glauben Dir kein Wort mehr:

Deine Blauzähne von Titanic

 Ziemlich beunruhigt, Benjamin Jendro,

lässt uns Ihr vielzitiertes Statement zur Verhaftung des ehemaligen RAF-Mitglieds Daniela Klette zurück. Zu dem beeindruckenden Ermittlungserfolg erklärten Sie als Sprecher der Gewerkschaft der Polizei: »Dass sich die Gesuchte in Kreuzberg aufhielt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Berlin nach wie vor eine Hochburg für eine gut vernetzte, bundesweit und global agierende linksextreme Szene ist.«

Auch wir, Jendro, erkennen die Zeichen der Zeit. Spätestens seit die linken Schreihälse zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, ist klar: Die bolschewistische Weltrevolution steht im Grunde kurz bevor. Umso wichtiger also, dass Ihre Kolleg/innen dagegenhalten und sich ihrerseits fleißig in Chatgruppen mit Gleichgesinnten vernetzen.

Bei diesem Gedanken schon zuversichtlicher: Titanic

 Anpfiff, Max Eberl!

Sie sind seit Anfang März neuer Sportvorstand des FC Bayern München und treten als solcher in die Fußstapfen heikler Personen wie Matthias Sammer. Bei der Pressekonferenz zu Ihrer Vorstellung bekundeten Sie, dass Sie sich vor allem auf die Vertragsgespräche mit den Spielern freuten, aber auch einfach darauf, »die Jungs kennenzulernen«, »Denn genau das ist Fußball. Fußball ist Kommunikation miteinander, ist ein Stück weit, das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an, aber es ist Liebe miteinander! Wir müssen alle was gemeinsam aufbauen, wo wir alle in diesem gleichen Boot sitzen.«

Und dieser schräge Liebesschwur, Herr Eberl, hat uns sogleich ungemein beruhigt und für Sie eingenommen, denn wer derart selbstverständlich heucheln, lügen und die Metaphern verdrehen kann, dass sich die Torpfosten biegen, ist im Vorstand der Bayern genau richtig.

Von Anfang an verliebt für immer: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Pendlerpauschale

Meine Fahrt zur Arbeit führt mich täglich an der Frankfurt School of Finance & Management vorbei. Dass ich letztens einen Studenten beim Aussteigen an der dortigen Bushaltestelle mit Blick auf sein I-Phone laut habe fluchen hören: »Scheiße, nur noch 9 Prozent!« hat mich nachdenklich gemacht. Vielleicht wäre meine eigene Zinsstrategie selbst bei angehenden Investmentbankern besser aufgehoben.

Daniel Sibbe

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Überraschung

Avocados sind auch nur Ü-Eier für Erwachsene.

Loreen Bauer

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt