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Woher kommt die Wut?

Im Osten Deutschlands wählt ein Viertel der Menschen eine rechte Partei. Ein weiteres Viertel wählt die AfD. Wieso ist das so? Woher kommt die Wut? Woher kommt die Angst? Und woher kommen die vielen Ausländer? Ein Verständnisversuch von Paula Irmschler.

"Sachsen, du hast es ni immer leicht
Drüben warn die Wessis reich
Treuhand, Kapital, de Wende
Sin für unser Volk das Ende
Doch ich verstehe deine Wut
Ausländer tun uns echt ni gut"

Diese Zeilen der Band "Ostdeutschlands geballte Hand" aus Kotschnitz gehen unter die Haut. Weil sie so treffend ein Gefühl beschreiben, das viele Menschen nunmehr über Generationen im Osten kennen. Maik88, der Sänger der Band, wuchs bei seinem alleinerziehenden Vater und vor allem bei seiner Großmutter auf. Das erzählt ein weiterer Song der Gefühlscombo auf dem Album "Kopfschuss". Die Mutter hat bereits ein Jahr nach der Wende rübergemacht, weil sie, so erfahre ich von dem Songtextportal Genius.com, eine "egoistische Schlampe" war. Der Vater wusste sich nicht anders zu helfen, als in Rostock-Lichtenhagen '92 eine dicke Party mit seinen Kumpels zu feiern. Jeder kennt Liebeskummer. Die Bilder von dem Vorfall, als er hinfiel und sich das Knie verstauchte, während die Meute Richtung Flüchtlingsheim mit einem Molotowcocktail in der Hand rannte, verfolgen die Familie bis heute. "Du kamst zu Fall, sie waren überall", heißt es im Refrain, "aber wir kämpfen für dich weiter, denn jedes Ross braucht seinen Reiter". Maik88 hat offenbar Emotionen und scheut sich nicht, sie zu verbalisieren und kreativ umzuwandeln. Woher also der Hang zum Rechtsextremismus? 

Ich habe Maik88 vor ein paar Jahren am Bahnhof getroffen, als ich auf der Durchreise nach Görlitz war, wo mir ein hochdotierter Journalistenpreis überreicht werden sollte. Er trat eine Dose Bier in meine Richtung und schrie: "Hey du hässliche Missgeburt, wart’s ab, bis dich mal ein Flüchtling vergewaltigt!" Das war schockierend und bitter, ja. Und ziemlich krass ausgedrückt. Doch wer schon mal in Kotschnitz war, weiß, dass es nicht so gemeint ist. Solche Sätze spielen sich in einem Kontext ab, den man im Westen des Landes schwer nachvollziehen kann. Das weiß ich heute, weil seitdem einiges an Ostliteratur erschienen ist. Dort liegt sehr viel brach, Häuser stehen teilweise leer, eine schlechte Infrastruktur herrscht vor und es sind kaum junge Menschen vor Ort. Dass man da den Wunsch hegt, eine Frau möge von einem Flüchtling vergewaltigt werden, das mag heftig sein, aber es geschieht nicht in einem luftleeren Raum. Ich sprach ihn damals an: "Hey, woher kommt deine Wut?" Er entgegnete, ich solle meine grünversiffte Fresse halten. Ich begann zu verstehen. Da gibt es nichts anderes mehr für die Menschen. Logisch, dass man dann irgendwann darauf kommt, in die nächstgrößere Stadt zu fahren und ein paar Ausländer und Zecken zu klatschen, wie es Maik88 noch an diesem Abend vorhatte. Was soll man denn auch hier tun, an einem Ort, der immer schläft? Als er mich am Gleis eine Weile durch die Gegend schubste, erfuhr ich durch ein Badge auf seiner Jacke von der Existenz seiner Band und nahm mir vor, sie zu Hause zu googlen, um zu sehen, was ihn umtreibt. Mir wurde einiges bewusst, was ich lange ausgeblendet hatte.

Im Krankenhaus hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Was war mir als Wessi entgangen? Für uns war Reichtum, Solidarität und Demokratie verständlich, alltäglich. Wir nahmen es mit der Muttermilch in uns auf. Für Maik88, seinen Vater und die anderen Mitglieder vom Volkssturm Ostsachsen war es jedoch anders. Ihr Land gab es 1989 plötzlich schon seit 44 Jahren nicht mehr. Früher war man bei den Pionieren organisiert, heute ist man es eben bei den "Adolf Hitler Hooligans" oder einer der anderen paar Hundert Kameradschaften, die junge Menschen mit offenen Armen aufnehmen und ihnen Ausländerhatz versprechen, welche schließlich zu den Grundbedürfnissen jedes Heranwachsenden gehört. Was wir damals als großen Sieg der Freiheit feierten, wurde für viele Orte der neuen Bundesländer zum Albtraum. Ganze Landstriche waren entwurzelt, perspektivlos, abgehangen und im Osten. Man fühlte sich betrogen. Jeder kennt, zumindest aus privaten Beziehungen, das Gefühl, sich betrogen zu fühlen. Als mein Freund mich verließ, fing ich auch an, unbekannte Frauen auf der Straße zu bespucken. Man muss sich vorstellen, wie es also ist, wenn man sich von einem ganzen System betrogen fühlt. Schier unvorstellbar. Verlieren wir Ostdeutschland also (schon wieder)? Haben wir es bereits verloren? Der Schmerz liegt tief.

Eine ganz normale Gartensparte im Süden von Kotschnitz. Hier treffen sich die "Adolf Hitler Hooligans" um entspannt Bier zu trinken. Irgendwo brummt ein Rasenmäher.

Einige Jahre später treffe ich wieder auf Maik88 beim Fest der Meinungsfreiheit in Kotschnitz. Für ihn bin ich noch immer die "Systempressefotze", für mich ist er ein Kind, das sich nicht traut, erwachsen zu werden. Als ich mich umsehe, bin ich schockiert, aber stelle auch fest, dass hier nicht alle unbedingt Nazis sind. Also die Skinheads Sächsische Schweiz schon, und auch die NPD in Teilen, genau wie die Nationalistische Front, die Identitäre Bewegung, der Dritte Weg, die Aktion Oder-Neiße, die Gruppe Ausländerrückführung, die NS-Boys, die Nationalen Sozialisten Chemnitz und die Wehrsporttruppe aus dem Nachbardorf. Aber ein paar hier haben auch ganz normale Klamotten an. Nur weil man sich einen starken Führer wünscht, eine gleichgeschaltete Presse und ein arisches Volk in einem deutschen Reich, macht einen das noch nicht zum Nazi. Mit dieser Diskussionskultur verlieren wir große Teile der Bevölkerung. Der Song "Wir knallen euch alle ab, ihr elenden Volksverräterratten" der Band "Deutschland, erwache!" zeugt von Demokratieverdruss. Man darf dabei nicht vergessen, dass es auch einen Nazi im Westen gibt, der, radikalisiert durch die "Bild"-Zeitung, kürzlich einen CDU-Politiker ermordet hat. Mit Arroganz kommen wir also nicht weiter.

Vor dem Eingang des Festivals demonstriert die Antifa, was so auch nicht unbedingt okay ist. Maik88 und seine Kumpels ziehen sich die Handschuhe an und machen sich auf den Weg, sie umzulatschen. Wer will es ihnen verübeln? Wir sollten nicht vergessen, wie viele Opfer der Kommunismus zu verzeichnen hat.

Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Wie bitte, Extremismusforscher Matthias Quent?

Im Interview mit der Tagesschau vertraten Sie die Meinung, Deutschland habe »viel gelernt im Umgang mit Hanau«. Anlass war der Jahrestag des rassistischen Anschlags dort. Das wüssten wir jetzt aber doch gern genauer: Vertuschung von schrecklichem Polizeiverhalten und institutionellem Rassismus konnte Deutschland doch vorher auch schon ganz gut, oder?

Hat aus Ihren Aussagen leider wenig gelernt: Titanic

 Aaaaah, Bestsellerautor Maxim Leo!

In Ihrem neuen Roman »Wir werden jung sein« beschäftigen Sie sich mit der These, dass es in nicht allzu ferner Zukunft möglich sein wird, das maximale Lebensalter von Menschen mittels neuer Medikamente auf 120, 150 oder sogar 200 Jahre zu verlängern. Grundlage sind die Erkenntnisse aus der sogenannten Longevity-Forschung, mit denen modernen Frankensteins bereits das Kunststück gelang, das Leben von Versuchsmäusen beträchtlich zu verlängern.

So verlockend der Gedanke auch ist, das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2086 bei bester Gesundheit von der heimischen Couch aus zu verfolgen und sich danach im Schaukelstuhl gemütlich das 196. Studioalbum der Rolling Stones anzuhören – wer möchte denn bitte in einer Welt leben, in der das Gerangel zwischen Joe Biden und Donald Trump noch ein ganzes Jahrhundert so weitergeht, der Papst bis zum Jüngsten Gericht durchregiert und Wladimir Putin bei seiner Kolonisierung auf andere Planeten zurückgreifen muss? Eines will man angesichts Ihrer Prognose, dass es bis zum medizinischen Durchbruch »im besten Fall noch 10 und im schlimmsten 50 Jahre dauert«, ganz bestimmt nicht: Ihren dystopischen Horrorschinken lesen!

Brennt dann doch lieber an beiden Enden und erlischt mit Stil: Titanic

 Gude, Fregatte »Hessen«!

Du verteidigst Deutschlands Demokratie zur Zeit im Roten Meer, indem Du Handelsrouten vor der Huthi-Miliz schützt. Und hast schon ganz heldenhaft zwei Huthi-Drohnen besiegt.

Allerdings hast Du auch aus Versehen auf eine US-Drohne geschossen, und nur einem technischen Fehler ist es zu verdanken, dass Du nicht getroffen hast. Vielleicht ein guter Grund für die USA, doch nicht auf der Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels zu beharren!

Doppelwumms von Titanic

 Wussten wir’s doch, »Heute-Journal«!

Deinen Bericht über die Ausstellung »Kunst und Fälschung« im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg beendetest Du so: »Es gibt keine perfekte Fälschung. Die hängen weiterhin als Originale in den Museen.«

Haben Originale auch schon immer für die besseren Fälschungen gehalten:

Deine Kunsthistoriker/innen von der Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

 Wenn beim Delegieren

schon wieder was schiefgeht, bin ich mit meinen Lakaien am Ende.

Fabio Kühnemuth

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Die Touri-Falle

Beim Schlendern durchs Kölner Zentrum entdeckte ich neulich an einem Drehständer den offenbar letzten Schrei in rheinischen Souvenirläden: schwarzweiße Frühstücks-Platzmatten mit laminierten Fotos der nach zahllosen Luftangriffen in Schutt und Asche liegenden Domstadt. Auch mein Hirn wurde augenblicklich mit Fragen bombardiert. Wer ist bitte schön so morbid, dass er sich vom Anblick in den Fluss kollabierter Brücken, qualmender Kirchenruinen und pulverisierter Wohnviertel einen morgendlichen Frischekick erhofft? Wer will 365 Mal im Jahr bei Caffè Latte und Croissants an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erinnert werden und nimmt die abwischbaren Zeitzeugen dafür sogar noch mit in den Urlaub? Um die Bahn nicht zu verpassen, sah ich mich genötigt, die Grübelei zu verschieben, und ließ mir kurzerhand alle zehn Motive zum Vorteilspreis von nur 300 Euro einpacken. Seitdem starre ich jeden Tag wie gebannt auf das dem Erdboden gleichgemachte Köln, während ich mein Müsli in mich hineinschaufle und dabei das unheimliche Gefühl nicht loswerde, ich würde krachend auf Trümmern herumkauen. Das Rätsel um die Zielgruppe bleibt indes weiter ungelöst. Auf die Frage »Welcher dämliche Idiot kauft sich so eine Scheiße?« habe ich nämlich immer noch keine Antwort gefunden.

Patric Hemgesberg

 Treffer, versenkt

Neulich Jugendliche in der U-Bahn belauscht, Diskussion und gegenseitiges Überbieten in der Frage, wer von ihnen einen gemeinsamen Kumpel am längsten kennt, Siegerin: etwa 15jähriges Mädchen, Zitat: »Ey, ich kenn den schon, seit ich mir in die Hosen scheiße!«

Julia Mateus

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

  • 27.03.:

    Bernd Eilert denkt in der FAZ über Satire gestern und heute nach.

Titanic unterwegs
28.03.2024 Nürnberg, Tafelhalle Max Goldt
31.03.2024 Göttingen, Rathaus Greser & Lenz: »Evolution? Karikaturen …«
04.04.2024 Bremen, Buchladen Ostertor Miriam Wurster
06.04.2024 Lübeck, Kammerspiele Max Goldt