Inhalt der Printausgabe

Mai 2006


In memoriam Walter Boehlich
Sie Schwein

(Seite 1 von 2)

Walter Boehlichs Kolumne hatte einen legendären Ruf. Dabei waren seine Texte überhaupt nicht lustig.
Aber genau das war der Witz.

on allen Mitarbeitern dieser Zeitschrift war Walter Boehlich die mit Abstand schillerndste, mysteriöseste und gleichzeitig ehrfurchtgebietendste Persönlichkeit. Er prägte das Erscheinungsbild des Blattes in entscheidender Weise. Schon 1979, in der ersten Ausgabe von TITANIC, wurde die ruhmreiche Mittelachse Boehlich-Waechter etabliert. Links, meist auf Seite 20, fing »der Boehlich« an, mit knallharten Themen wie »Der Einfluß der Gewerkschaften auf Samuel Beckett«, dann folgten F. K. Waechters »Stilles Blatt« nebst »Rückseite«, die den Leser unvermittelt in ein verstörendes Humoruniversum stürzen ließen, und es endete dann mit dem eisenharten Aufprall auf der zweiten Boehlich-Seite mit mehr Informationen zum gleichen Thema und einer Schlußthese wie »Hätte ›Warten auf Godot‹ mit einem Betriebsrat eine andere Wendung genommen?«. Das war es, was die frühe TITANIC im Innersten zusammenhielt. Boehlich/Waechter/Waechter/Boehlich, eine Seitenabfolge wie ein Naturgesetz.
Von weitem betrachtet sah »der Boehlich« ziemlich trocken aus. Ein Buchstabe folgte auf den anderen, hin und wieder von Satzzeichen unterbrochen, aber wenn man sich die Mühe machte, die Buchstaben zu verbinden, dann stellten sich oft Erkenntnisgewinn, Bewußtseinserweiterung und Aufklärung ein. Boehlich konnte und wollte über alles schreiben, nur nicht über »Opern, Kinder und Afrika«. Er kannte den Kulturbetrieb wie kein anderer TITANIC-Mitarbeiter, was allerdings nicht wirklich schwierig war. Seine bloße Anwesenheit bei Weihnachts- und Geburtstagsfeiern verhinderte, daß dort zuviel Blödsinn geredet wurde. Wer in seiner Nähe das Wort Adorno auch nur dachte, wurde in ein Gespräch verwickelt, dem er niemals gewachsen war. Vergnügt zog Boehlich Rauch aus seiner Pfeife und genoß sichtlich das ehrerbietige Treiben um ihn herum. »Herr Boehlich, erzählen Sie mal, wie war das mit Max Frisch?« »Warum haben Sie den ›Steppenwolf‹ umgeschrieben?« »Ist Martin Walser wirklich eine so blöde Nuß?« Und Boehlich ließ sich nicht lumpen und erzählte, wie er Max Frisch auf Grund einer Wette gezwungen hatte, den Namen »Gantenbein« in einem Romantitel zu verwenden, und wie er Martin Walser mit zwei blutjungen Buchhändlerinnen…, aber da mußten wir leider eine neue Flasche Wein für ihn holen gehen und haben den Rest nicht mitgekriegt.
Die erste und vornehmste Aufgabe jedes Chefredakteurs war die »Boehlich-Betreuung«. Sie bestand aus zwei Anrufen, die man selbst tätigen, und einem Anruf, den man entgegennehmen mußte. Einmal im Monat hatte man Boehlich anzurufen, aber man war gut beraten, sich auf dieses Telefonat zwei Wochen vorzubereiten: »Tag, Herr Boehlich, Schmitt hier, ich…« »Sie Schwein! Haben Sie denn ein Thema für mich?« »Äh, ich, vielleicht die Gewerkschaft…« »Reden Sie keinen Blödsinn, Herr Schmitt, ich dachte, es wäre mal ganz interessant, das Verhältnis der SPD zum Grundgesetz zu analysieren. Sie haben ja sicher gestern den Habermastext in der Zeit gelesen?« »Ich, äh, also…«
Fragte man Tage später nach, wo der Text bleibe, blaffte er in den Hörer: »Ich schwitze!« Und das sollte bedeuten: Er war so gut wie fertig. Nach dem zweiten Boehlich-Anruf verging eine Wartezeit zwischen vier und vierundzwanzig Stunden, dann meldete sich der Autor mit triumphierender Stimme: »Brauchen Sie nichts von mir?« (Wahlweise auch: »Warum rufen Sie mich denn nicht mehr an?«) Sofort wurde ein Fahrradbote in Bewegung gesetzt, der Märchenhaftes zu berichten wußte über eine Wohnung, deren Tür sich nur einen Spaltbreit öffnen ließ, weil überall Bücher lagen, standen, sich stapelten und zusammenrotteten. Sie hatten den Mann anscheinend in ihrer Gewalt, ohne ihre Zustimmung konnte er die Wohnung nicht verlassen. Das kugelkopfmaschinengeschriebene Manuskript war schon äußerlich unverkennbar. Aus irgendeinem Grund weigerte sich Boehlich, die ß-Taste seiner Maschine zu betätigen, und so verwendete er in Vorwegnahme der Rechtschreibreform an den entsprechenden Stellen immer ein Doppel-s. Das bloße Berühren des Manuskripts galt als sakrale Handlung, manche Mitarbeiter glaubten sogar, man könne damit Krankheiten heilen oder Wasseradern aufspüren. Redakteure verbrachten oft Tage mit Boehlich-Texten in der geheimen Hoffnung, einen Fehler zu finden, wenn schon keinen inhaltlichen, dann wenigstens einen grammatikalischen. Aber das war Hybris. Boehlich hatte schließlich den frühen Handke lektoriert und Wolfgang Koeppen derartig gekürzt, daß der bis an sein Lebensende nichts mehr zustande brachte.

1 | 2   


Aktuelle Startcartoons

Heftrubriken

Briefe an die Leser

 Du, »Deutsche Welle«,

betiteltest einen Beitrag mit den Worten: »Europäer arbeiten immer weniger – muss das sein?« Nun, wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, ewig und drei Tage überlegt, langjährige Vertraute um Rat gebeten und nach einem durchgearbeiteten Wochenende schließlich die einzig plausible Antwort gefunden. Sie lautet: ja.

Dass Du jetzt bitte nicht zu enttäuscht bist, hoffen die Workaholics auf

Deiner Titanic

 Grunz, Pigcasso,

malendes Schwein aus Südafrika! Du warst die erfolgreichste nicht-menschliche Künstlerin der Welt, nun bist Du verendet. Aber tröste Dich: Aus Dir wird neue Kunst entstehen. Oder was glaubst Du, was mit Deinen Borsten geschieht?

Grüße auch an Francis Bacon: Titanic

 Persönlich, Ex-Bundespräsident Joachim Gauck,

nehmen Sie inzwischen offenbar alles. Über den russischen Präsidenten sagten Sie im Spiegel: »Putin war in den Achtzigerjahren die Stütze meiner Unterdrücker.« Meinen Sie, dass der Ex-KGBler Putin und die DDR es wirklich allein auf Sie abgesehen hatten, exklusiv? In dem Gespräch betonten Sie weiter, dass Sie »diesen Typus« Putin »lesen« könnten: »Ich kann deren Herrschaftstechnik nachts auswendig aufsagen«.

Allerdings hielten Sie sich bei dessen Antrittsbesuch im Schloss Bellevue dann »natürlich« doch an die »diplomatischen Gepflogenheiten«, hätten ihm aber »schon zu verstehen gegeben, was ich von ihm halte«. Das hat Putin wahrscheinlich sehr erschreckt. So richtig Wirkung entfaltet hat es aber nicht, wenn wir das richtig lesen können. Wie wär’s also, Gauck, wenn Sie es jetzt noch mal versuchen würden? Lassen Sie andere Rentner/innen mit dem Spiegel reden, schauen Sie persönlich in Moskau vorbei und quatschen Sie Putin total undiplomatisch unter seinen langen Tisch.

Würden als Dank auf die Gepflogenheit verzichten, Ihr Gerede zu kommentieren:

die Diplomat/innen von der Titanic

 Waidmannsheil, »Spiegel«!

»Europas verzweifelte Jagd nach Munition«, titeltest Du, und doch könnte es deutlich schlimmer sein. Jagd auf Munition – das wäre, so ganz ohne diese Munition, deutlich schwieriger!

Nimmt Dich gerne aufs Korn: Titanic

 Hallo, faz.net!

»Seit dem Rückzug von Manfred Lamy«, behauptest Du, »zeigt der Trend bei dem Unternehmen aus Heidelberg nach unten. Jetzt verkaufen seine Kinder die Traditionsmarke für Füller und andere Schreibutensilien.« Aber, faz.net: Haben die Lamy-Kinder nicht gerade davon schon mehr als genug?

Schreibt dazu lieber nichts mehr: Titanic

Vom Fachmann für Kenner

 Kehrwoche kompakt

Beim Frühjahrsputz verfahre ich gemäß dem Motto »quick and dirty«.

Michael Höfler

 Frühlingsgefühle

Wenn am Himmel Vögel flattern,
wenn in Parks Familien schnattern,
wenn Paare sich mit Zunge küssen,
weil sie das im Frühling müssen,
wenn überall Narzissen blühen,
selbst Zyniker vor Frohsinn glühen,
Schwalben »Coco Jamboo« singen
und Senioren Seilchen springen,
sehne ich mich derbst
nach Herbst.

Ella Carina Werner

 Tiefenpsychologischer Trick

Wenn man bei einem psychologischen Test ein Bild voller Tintenkleckse gezeigt bekommt, und dann die Frage »Was sehen Sie hier?« gestellt wird und man antwortet »einen Rorschachtest«, dann, und nur dann darf man Psychoanalytiker werden.

Jürgen Miedl

 Bilden Sie mal einen Satz mit Distanz

Der Stuntman soll vom Burgfried springen,
im Nahkampf drohen scharfe Klingen.
Da sagt er mutig: Jetzt mal ehrlich –
ich find Distanz viel zu gefährlich!

Patrick Fischer

 Dünnes Eis

Zwei Männer in Funktionsjacken draußen vor den Gemüsestiegen des türkischen Supermarkts. Der eine zeigt auf die Peperoni und kichert: »Hähä, willst du die nicht kaufen?« Der andere, begeistert: »Ja, hähä! Wenn der Esel dich juckt – oder nee, wie heißt noch mal der Spruch?«

Mark-Stefan Tietze

Vermischtes

Erweitern

Das schreiben die anderen

Titanic unterwegs
20.04.2024 Eberswalde, Märchenvilla Max Goldt
20.04.2024 Itzehoe, Lauschbar Ella Carina Werner
24.04.2024 Trier, Tuchfabrik Max Goldt
25.04.2024 Köln, Comedia Max Goldt